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Roter Stern und Rosa Liebe (Archiv / 2000)

  • Sonntag, 14. Januar 2007 @ 13:44
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Archiv Über die Widersprüchlichkeit marxistischer Theoriebildung zur Homosexualität und die politische Halbheit in der Haltung der kommunistischen ArbeiterInnenbewegung

von Manfred Mugrauer (KSV Wien). Beitrag zuerst gekürzt erschienen in UNITAT (rote StudentInnenzeitung des KSV), Nr. 2/2000
Roter Stern und Rosa Liebe

Über die Widersprüchlichkeit marxistischer Theoriebildung zur Homosexualität und die politische Halbheit in der Haltung der kommunistischen ArbeiterInnenbewegung

An die Ideen des Marxismus und die Realität des Sozialismus knüpften sich vielfältige Hoffnungen auf die gesellschaftliche Emanzipation der Homosexuellen und ein Ende der Homophobie. Nicht zu Unrecht, wie die Äußerungen und Ziele marxistisch denkender Menschen zeigen, aber auch nicht immer zu Recht, wie die Praxis mancher Staaten des realen Sozialismus zeigte.

In diesem Beitrag wird sehr selektiv an das angesprochene Spannungsfeld "ArbeiterInnenbewegung und Homosexualität" herangegangen. Gestreift werden strafrechtliche und sexuologische Fragen, ferner Aspekte der Homosexuellenunterdrückung und –integration im realen Sozialismus. Im Mittelpunkt steht die Widersprüchlichkeit sozialistischer Theoriebildung zur Homosexualität und die sich daraus ableitende politische Halbheit in der Haltung der kommunistischen ArbeiterInnenbewegung und der sozialistischen Länder (v.a. Sowjetunion und DDR). Dabei geht es um nicht mehr als eine angemessene Beurteilung dieser Frage, also weder um die Tabuisierung von Problemen noch um die Überschätzung ihrer Bedeutung. Leider läßt die mangelnde Spezifik der Themenstellung nur sehr allgemeine Aussagen zu, was nur damit entschuldigt werden kann, daß es zu diesem Zeitpunkt wohl vordergründig darum geht, ein in kommunistischen Zusammenhängen bisher kaum beachtetes Thema stärker ins Blickfeld zu rücken./1/

SPD und KPD gegen den "Schandparagraphen"

Insgesamt ist es äußerst schwierig, Stellungnahmen aus der ArbeiterInnenbewegung zur Homosexualität ausfindig zu machen. Das Tabu, mit dem die sexuelle Frage belegt war, traf und trifft in verstärktem Maß die Homosexualität. Die Klassiker des Marxismus haben sich über Probleme der Sexualität und Homosexualität weitgehend ausgeschwiegen, was sie nicht davor bewahrte, Jahrzehnte später sich den Vorwurf der Homophobie einzuheimsen. Neben Engels´ beiläufiger Bemerkung der "Widerwärtigkeit der Knabenliebe" im alten Griechenland/2/, die – wie der Kontext ergibt – keinesfalls den Status einer theoretisch begründeten Aussage beansprucht, wird in der schwulen Literatur vor allem ein Brief von Engels an Marx aus dem Jahr 1869 als Indiz für eine Antihomosexualität der beiden ausgegeben./3/ Dies erscheint jedoch kaum stichhaltig: immerhin waren Marx und Engels schwerlich in der Lage, die Entwicklungen der Sexuologie zu verfolgen, zudem entstand eine eigenständige Sexualwissenschaft und eine sexualwissenschaftliche Erforschung der Homosexualität erst nach Engels´ Tod. Wenn sich Engels u.a. mit Ablehnung zur Homosexualität äußerten, so erlagen sie nicht mehr als den verbreiteten Vorurteilen ihrer Zeit. Die Ursachen der späteren Homosexuellendiskriminierung in den sozialistischen Ländern sind jedenfalls nicht in der vermeintlichen Antihomosexualität der marxistischen Klassiker zu suchen.

Als einer der ersten unterzeichnete August Bebel 1898 die Petition für die Abschaffung des § 175, die von der ersten deutschen Homosexuellenorganisation, dem Wissenschaftlich-humanitären Komitee, an den Reichstag gerichtet wurde. Die deutsche Sozialdemokratie nahm damit den Kampf gegen das Mittelalter im Sexualstrafrecht auf und stellte sich an die Spitze derer, die eine Humanisierung forderten. In der Weimarer Republik forderten neben humanistischen WissenschafterInnen, KünstlerInnen, SexualreformerInnen wie z.B. Magnus Hirschfeld und Emanzipationsbewegungen Homosexueller auch die KPD und SPD die Abschaffung dieses "Schandparagraphen". Im Juni 1924 stellte die KPD-Reichstagsfraktion einen diesbezüglichen Antrag, der auch die Amnestie für verurteilte Straftäter beinhaltete. Generell entwickelte die KPD in der Strafrechtsdiskussion einen konsequenteren Standpunkt als die SPD und brachte wesentlich Eigenständiges ein, indem sie vielfältig den Klassencharakter der homophoben Kräfte enthüllte. Im Oktober 1929 wurde im 21. Reichstagsstrafrechtsausschuß aufgrund des gemeinsamen Vorgehens der KPD- und SPD-Abgeordneten mit 15 gegen 13 Stimmen die Streichung des Paragraphen beschlossen; nur der Sieg des Faschismus 1933 verhinderte, daß diese Entscheidung rechtsgültig wurde.

Krankheitssymptom Dekadenz

Zwar engagierten sich die ArbeiterInnenparteien von allen politischen Kräften am konsequentesten für die Beseitigung von Sondergesetzen gegen homosexuelle Männer und für die Verhinderung solcher Gesetze gegen homosexuelle Frauen, dennoch konnten sie sich nicht frei davon machen, Homosexualität "verfallstheoretisch" als Dekadenzerscheinung zu interpretieren, sowie in Verkürzung und falscher Zuspitzung der Klassenfrage ihre Existenz an die aus ihrer Sicht überlebten und abgewirtschafteten Klassen des Adels und der Bourgeoisie zu binden. Homosexuelles Verhalten galt demgemäß als negative Konsequenz und Krankheitssymptom kapitalistisch entfremdeter Gesellschaftsstruktur. Es galt dann die naive Verheißung, in einer sozialistischen und in weiterer Folge kommunistischen Gesellschaft werde es nur gesunde, also heterosexuelle Geschlechterbeziehungen geben. Insofern waren sämtliche moralischen Vorurteile gegenüber der Homosexualität als Laster, Entartung, Perversität, sexuelle "Übersättigung" usw. auch innerhalb der ArbeiterInnenklasse virulent, was auch dazu führte, je nach Lage der Dinge, antihomosexuelle Vorurteile als Mittel der politischen Auseinandersetzung zu nutzen./4/ Die Nichtauseinandersetzung mit den eigenen Vorurteilen trug in der Linken zur Etablierung des Stereotyps des homosexuellen Nazis bei, Homosexualität wurde seit 1933 in einen wesenhaften Zusammenhang mit dem Nationalsozialismus gebracht.

Besonders deutlich trat die Widersprüchlichkeit marxistischer Theoriebildung und die politische Halbheit in der Haltung der SPD und KPD auch in der vorwissenschaftlichen Auffassung der Homosexualität als Krankheitssymptom zutage, weshalb auch die Verfolgung dieser bemitleidenswerten "Kranken" durch die Strafjustiz abgelehnt wurde. Allenfalls gehe es wegen dieses "Leidens" um besondere Toleranz und Nachsicht.

Roter Stern und rosa Liebe

Antihomosexualität, strafgesetzliche Bestimmungen, sexuologische Forschungen, Thematisierung in Medien und Kultur, sowie öffentliches Interesse waren in den einzelnen sozialistischen Ländern recht unterschiedlich. Dies trifft v.a. auf das Strafrecht,/5/ Medien und Wissenschaft zu. Zu verweisen ist ferner auch auf den großen Mangel an Informationen infolge der beinahe völligen Tabuisierung dieses Themas. In groben Zügen kann jedenfalls festgestellt werden, daß Lesben und Schwule kaum solche gesellschaftlichen Bedingungen vorfanden, die es der großen Mehrheit von ihnen zweckmäßig und ratsam erscheinen ließ, offen homosexuell zu leben. Als gesellschaftliches Phänomen trat die homosexuelle Lebensführung im öffentlichen Leben offenbar nicht in Erscheinung, bis hin zur Leugnung ihrer Existenz überhaupt. Weibliche Homosexualität existierte entweder gar nicht oder nur in Nebensätzen; in fast allen Fällen ist nur von der männlichen Homosexualität die Rede. Die Wissenschaft traf nur selten positive Aussagen, zur Homophobie in den sozialistischen Ländern gab es nur wenig wissenschaftliche Untersuchungen. Die Sexualpädagogik blieb in ihrem restriktiven Rigorismus befangen (das Thema Homosexualität existierte für sie beinahe gar nicht). Sogar die Thematisierung der Homosexualität im Bereich der Kunst ist mehr als spärlich.

Von einer kurzen Phase unmittelbar nach dem Sieg der Oktoberrevolution abgesehen kann man das meiste, was zur Homosexualität seitdem gesagt und geschrieben wurde, als "schlechte Rationalisierung einer mit den humanistischen Prinzipien des Marxismus nicht zu vereinbarenden Homosexualitätspolitik" umschreiben./6/ Auch in der DDR, deren Sexuologie als führend in den sozialistischen Ländern galt, wurde Homosexualität lange als Krankheit, Fehlentwicklung u.ä. behandelt, Ursachenforschung war nicht selten durch den Wunsch nach Therapie und Prophylaxe motiviert. Bis in die 70er Jahre tauchte die Verführungsidee als dominierend auf. Aussagen in den "Aufklärungs"büchern der 50er und 60er Jahre bestechen v.a. durch unglaubliche Antiquiertheit, was sich am deutlichsten in der ausschließlichen Orientierung auf die sozialistische Familie und Ehe äußerte. Dies läßt sich kaum mit dem damaligen "Erkenntnisstand" entschuldigen, schließlich blieb auch in weiterer Folge die Bewertung bestimmter sexueller Verhaltensweisen (v.a. der männlichen Homosexualität) hinter international anerkannten Beurteilungen zurück. Erst in den 70er Jahren erfolgte eine Enttabuisierung des Themas Homosexualität.

Die mangelnden Auseinandersetzungen mit Restposten kleinbürgerlicher Moral, mit biologisierenden wie pathologisierenden Richtungen in der Sexualitätsforschung begünstigte das Fortbestehen alter Vorurteile. Die 1974 erschienene mehrbändige "Sexuologie" (hg. von Hesse/Tembrock) charakterisierte Homosexualität als eine biologische Normabweichung der Sexualität, in der späteren sexuologischen Literatur in der DDR wird Homosexualität in Anschluß an die internationale Sexualforschung als "Variante" des Sexuallebens und somit mit Blick auf heterosexuelle Beziehungen als gleichwertig definiert. Wissenschaftlich unersetzbarer Konsens wurde letztlich weitgehend darüber erreicht, daß es sich bei einer homosexuellen Orientierung nicht um eine behandlungsbedürftige Krankheit, sondern um eine Normvariante menschlicher Sexualität handelt, zu der Menschen nicht dauerhaft verführbar sind, die dazu keine konstitutive Disposition, welche biopsychosozial vermittelt ist, besitzen. Insofern wurde Homosexualität in ihrer Dialektik und Widersprüchlichkeit als biopsychosoziales, von zahlreichen Determinanten abhängiges Phänomen aufgefaßt und gesellschaftlich einzuordnen versucht.

Von der Revolutionierung ...

Die Große Sozialistische Oktoberrevolution von 1917 bedeutete auch für Homosexuelle den Beginn einer Revolutionierung. In marxistisch revolutionärer Tradition versuchten die Bolschewiki nicht nur die wirtschaftlichen Bedingungen zu verändern, sondern ebenso die allgemeinen Lebensbedingungen, die Lebenseinstellung überhaupt, die Beziehungen zwischen den Geschlechtern und zwischen Eltern und Kindern zu revolutionieren, also die Gesellschaft in toto völlig umzuwandeln. Fortschrittliche Gesetzgebungsmaßnahmen und deutliche Bestrebungen gegen die Kleinfamilie und deren sexuelle Ökonomie fanden im Rahmen grundlegender revolutionärer Veränderungen auf dem Gebiet der Familie und des Sexuallebens Raum für Verwirklichung. Bedeutsam erscheint die Tatsache, daß allgemeine revolutionäre Zielsetzungen zu Beginn der Revolution und Ziele der Sexual- und Familienpolitik dieses Zeitraums im Einklang und enger Wechselwirkung standen und die Zielsetzung sichtbar wird, das Bewußtsein der Menschen grundlegend zu verändern und die sozialistische Ideologie zu behaupten und zu festigen./7/

Gleich nach der Oktoberrevolution wurden die zaristischen Gesetze annulliert und ein sowjetisches Strafrecht erarbeitet, das 1922 gesondert für die einzelnen Republiken in Kraft trat. Danach wurde (wie auch im StGB 1926) "einfache" (also einvernehmliche) Homosexualität unter erwachsenen Männern nicht mehr geahndet, da homosexuelle Akte unter Erwachsenen keinen gemeinschaftsgefährdenden oder –verletzenden Charakter hätten und somit auch nicht öffentlich verfolgt würden. In diesem Zusammenhang sind auch die strafrechtliche Freigabe der Abtreibung und die Erleichterung der Ehescheidung, aber auch theoretisch-ideologische Diskussionen über die neue, revolutionäre Lebensweise, die auch das Geschlechts- und Familienleben betrafen, zu nennen. Unbestritten ist, daß die Familien- und Sexualpolitik des ersten Jahrzehnts der jungen Sowjetunion beispielhaft war, für andere europäische Länder als vorbildhaft und richtungsweisend galt, und vollends den humanistischen Zielen des Marxismus entsprach.

... zur restriktiven Sexualmoral

In der darauffolgenden Stalin-Zeit schwand immer mehr von diesem ursprünglichen revolutionären, humanistischen Impuls dahin. Alle "modernistischen" und "antisowjetischen" Theorien wurden aus den an den Sowjetuniversitäten vertretenen Wissenschaften verdrängt, die Sexualwissenschaft, die man bis Ende der 20er Jahre betrieben hatte, wurde liquidiert. Dies bedeutete ein Zurück zur althergebrachten asketischen, restriktiven und sexualfeindlichen Moral, die als neue, nämlich als die sozialistische Sittlichkeit ausgegeben wurde. Die bereits erwähnte mythische Theorie von der Homosexualität als "Produkt der Dekadenz des bourgeoisen Teils der Gesellschaft" und in weiterer Folge als faschistischer Perversion war der ideologische Hintergrund in der SU, als Tausende männliche Homosexuelle 1934 festgenommen wurden. Am 7. März 1934 erließ das Präsidium des Zentralen Exekutivkomitees des Sowjetkongresses der UdSSR ohne jede vorangegangene öffentliche rechtswissenschaftliche Diskussion und sexuologische Begründung (es existierte keine eigenständige sowjetische wissenschaftlich fundierte Anschauung von der Homosexualität) per normativen Bundesgesetz eine Verordnung, die den Republiken zur Auflage machte, ihre jeweiligen Strafgesetzbücher durch einen speziellen Homosexuellenparagraphen (§ 121) zu ergänzen. Einvernehmliche Homosexualität unter erwachsenen Männern wurde unter Strafe gestellt. Maxim Gorki lieferte im Zusammenhang mit einer Faschismuskritik die publizistische Rückendeckung./8/ 1936 wurde im Zuge der allgemeinen Rückbesinnung auf die tradierte Familienpolitik Abtreibung wieder unter Strafe gestellt, Ehescheidung erschwert. Fortan wurden nur mehr Ehe und Familie als einzig akzeptable Formen und Ziele sexueller Aktivität akzeptiert.
Die erste offizielle Begründung für § 121 lieferte die 2. Auflage der Großen Sowjetenzyklopädie 1952. Im Artikel "Homosexualität" wird diese als Ausdruck von "Lastern und Perversionen" gesehen, in der kapitalistischen Gesellschaft werde sie als "Ausdruck der moralischen Zersetzung der herrschenden Klassen ... faktisch nicht bestraft"; ganz anders "in der sowjetischen Gesellschaft mit ihrer gesunden Moral", wo die homosexuelle Perversion als "schändlich und verbrecherisch" gelte./9/ Zwar gab es nach 1953 vorsichtige Lockerungen und Strafmilderungen (wie zahlreich Verurteilungen waren, läßt sich nur schwer abschätzen, da sowjetische Kriminalstatistik keine absoluten Zahlen veröffentlichte), dennoch wird in der 3. Ausgabe der Großen Sowjetenzyklopädie 1972 Homosexualität als "sexuelle Perversion, die aus widernatürlicher starker Neigung zu Personen des gleichen Geschlechts" bestehe gekennzeichnet./10/

Anscheinend hat man in der Sowjetunion die internationalen Forschungsergebnisse auf sexualwissenschaftlichem Gebiet nicht zur Kenntnis genommen. Bis zuletzt galt Homosexualität für WissenschafterInnen bestenfalls als "schwere Störung", die strafgesetzlich oder zumindest klinisch zu behandeln sei. Eine erste wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem diesem Thema lieferte der russische Sexualwissenschafter Igor Kon in seinem Buch "Einführung in die Sexuologie", das 1981 in Ungarn, 1985 in der DDR und der BRD, aber nicht unzufällig erst 1989 in der SU erschien./11/ Bedauernswerterweise hat der wissenschaftlicher Fortschritt in diesem Punkt in der UdSSR keine Dynamisierung erfahren. Entsprechend der politischen und gesellschaftlichen Ächtung existierte in der Öffentlichkeit nichts, was auf Homosexualität hingewiesen hätte. Empirische Darstellungen über das Leben homosexueller Frauen und Männer sucht man vergebens. Es galten bis zuletzt Gesetze, die Homosexuelle strafrechtlich zur Verantwortung zogen.

Vorreiterin DDR

Die Geschichte homosexueller Frauen und Männer in der DDR ist nicht von der Geschichte der DDR insgesamt zu trennen, und diese Geschichte ist widersprüchlich. Zur DDR-Geschichte gehört damit, was bislang verschwiegen oder verdrängt wurde: die Diskriminierung von Lesben und Schwulen. Zu ihr gehört aber auch, was in den letzten Jahren ihrer Existenz deutlich sichtbar wurde: der Versuch, gesellschaftliche Werturteile gegenüber der Homosexualität neu zu bestimmen./12/ Es ist hier nicht der Platz, die Strafrechtsdiskussionen innerhalb von Partei und Staat im einzelnen nachzuvollziehen. Während die BRD die faschistischen Paragraphen 175 und 175a ins Strafgesetzbuch übernahm, orientierte sich die DDR am Wortlaut, der bis 1935 gültig war. Vorschläge zur Reform und Streichung des § 175, die in den Jahren 1947/48 an das ZK der SED herangetragen wurden, wurden mit dem Hinweis abgelehnt, es gebe dringlichere Aufgaben. Insgesamt war es nach 1945 nicht möglich, unmittelbar an die progressiven Traditionen der Weimarer Republik bewußt anzuknüpfen. Als "keine prinzipiellen Gegner des Naziregimes" wurden Homosexuelle nicht als Opfer des Nationalsozialismus anerkannt. Seit der faktischen Aufhebung des § 175 1957 kam es kaum noch zur Bestrafung der sogenannten "einfachen Homosexualität" (zwischen Erwachsenen), der entsprechende Paragraph wurde schließlich im Zuge der Strafrechtsreform 1968 getilgt. Der Tatbestand der "einfachen" Homosexualität war damit aus dem Gesetzestext verschwunden. Übrig blieb § 151, der den "besonderen Schutz der Jugend" sichern sollte. Dieser galt, bis 1988 die letzte strafrechtliche Sonderbehandlung schließlich ganz aufgehoben wurde. Die damit vollzogene Gleichstellung von hetero- und homosexuellen Jugendlichen beseitigte den letzten Rest einer gesonderten strafrechtlichen Behandlung Homosexueller. Begriffe wie homosexuell oder heterosexuell wurden aus dem Strafrecht der DDR eliminiert, was auch im internationalen Vergleich eine große Errungenschaft darstellte.

Von der Tabuisierung ...

Trotz dieser fortlaufenden Liberalisierungen des Sexualstrafrechts blieb es im Rahmen einer allgemein repressiven Formierung im Bereich der Sexualmoral bei der strikten Aufrechterhaltung des Tabus Homosexualität, an der sittlichen Verurteilung jener wurde festgehalten. Hingegen wurden konservative Wertvorstellungen belebt. In den postulierten "zehn Geboten der sozialistischen Moral und Ethik" wurde Homosexualität aus dem so benannten "anständigen Leben" ausgeklammert. "Die von ihr (der SED, Anm.) propagierte sozialistische Gesellschaft favorisierte die lebenslange, monogame und reproduktive Ehe. Diese Norm bestimmte ihre Sexualpolitik und Sexualerziehung. ... Homosexuell-Sein hatte darin keinen Platz. Im gleichgeschlechtlichen Begehren, das frei wählbar gelebt werden konnte, sah die SED eine Gefahr für die sozialistische Moral, für das ´Sittlichkeitsgefühl der Werktätigen´"./13/

Die Situation homosexueller Männer und Frauen in der DDR war (wie in anderen sozialistischen Ländern auch) kein Thema für die Politik von Partei und Regierung. Ihre soziale Marginalisierung und Diskriminierung im Alltag dauerte fort, sie funktionierte letztlich so gut, daß Lesben und Schwule in der Öffentlichkeit bis hinein in die Mitte der 80er Jahre nicht wahrnehmbar waren – so als würde es sie im Arbeiter- und Bauernstaat nicht geben. Versuche, die Tabuisierung ihrer Situation zu durchbrechen, blieben in der Öffentlichkeit unbemerkt, eine öffentliche Diskussion über Homosexualität wurde verhindert. Schwule und Lesben, die in der Öffentlichkeit in Erscheinung traten und sich seit Beginn der 80er in Gruppen zusammenschlossen, erschienen als Sicherheitsrisiko. Ihnen wurde die Möglichkeit zur Gründung einer politischen Organisation verweigert, viele Homosexuelle wurden vom Staatssicherheitsdienst observiert und wie Staatsfeinde behandelt. Bis zum Ende der DDR hatten lesbisch-schwule Emanzipationsgruppen keine Presseorgane und keine entwickelte Infrastruktur homosexueller Kultur.

... zur beginnenden Integration

In den 80er Jahren wurde eine Änderung der offiziellen Positionen zur Homosexualität sichtbar. Es setzten verstärkt Bemühungen ein, auf verschiedenen Ebenen das Tabu Homosexualität zu brechen. Als Katalysator dienten zwei wissenschaftliche Tagungen, die 1985 in Leipzig und 1988 in Karl-Marx-Stadt zum Thema "Psychosoziale Aspekte der Homosexualität" veranstaltet wurden. Dabei handelte es sich gleichzeitig um die ersten öffentlichen Foren, auf denen sich Lesben und Schwule äußern konnten. Deren Tagungsbände bedeuteten einen Durchbruch./14/ Interessant erscheint, daß sich die DDR-Diskussionen über die wichtige Rolle der Individualitätsentwicklung für die weitere Entfaltung der sozialistischen Gesellschaft und zur Neugewichtung des Verhältnisses von Individuum und Kollektiv scheinbar in der sogenannten Homosexualitätsfrage fokussierten.
In Tageszeitungen, im staatlichen Rundfunk, in Fernsehen, Film und Literatur war es nunmehr möglich, über Probleme von Schwulen und Lesben zu reden. Bis dahin war das Problem Homosexualität in der Kultur nur ein Randthema. Gut gemeinte Zeichen von Schwulen und ihrem Leben tauchten in der Belletristik erst in der 70ern mit Dieter Nolls Roman "Kippenberg" (1979) und Lizenzausgaben mit Werken von Klaus Mann, Andre Gide, Marcel Proust, Pier Paolo Pasolini usw. auf. Es folgten Ulrich Berkes (Ikarus über der Stadt) und Peter Hacks (Meta Morfoß). Insgesamt ließ sich fortan von einem aufgeklärten und auf Toleranz wirkenden Klima in Medien und Kultur sprechen. Jürgen Lemke schilderte in "Ganz normal anders" (1989) Lebensentwürfe von Homosexuellen aller Altersstufen. Dem Dokumentarfilm "Die andere Liebe" von 1988 folgte mit Heiner Carows "Coming out" ein erster abendfüllender DEFA-Spielfilm über Homosexuelle. Mit zahlreichen Veröffentlichungen in Zeitungen und Zeitschriften, Sendungen und Berichten wurde die Aufklärungsarbeit in den Medien intensiviert. Adressiert waren sie überwiegend an die "heterosexuelle Mehrheit", die zu mehr "Toleranz und Akzeptanz" geführt werden sollte. In diesem Zusammenhang ist v.a. das 1987 in hoher Auflage erschienene (umstrittene) populärwissenschaftliche Buch "Homosexualität. Herausforderung an Wissen und Toleranz" von Reiner Werner zu nennen./15/

Sozialistischer Humanismus?

"Wir gehen an das Problem der Homosexualität von den Prinzipien des sozialistischen Humanismus aus heran. Dieser erfordert aktives Eintreten für den Fortschritt, für das wahrhaft Menschliche. Er orientiert sich auf die wirklichen Bedürfnisse der Menschen, betrachtet diesen als das höchste Wesen und weiß, daß seine allseitige Entwicklung die völlige Umgestaltung aller sozialen Verhältnisse voraussetzt. Von daher versteht es sich von selbst, daß Kommunisten überall gegen die Diskriminierung von Homosexuellen auftreten."/16/

Legt man die Möglichkeit der Entwicklung von Individualität und Subjektivität als Maßstab für die Qualität des Humanismus sozialistischer Gesellschaften an, muß wohl festgehalten werden, daß die Geschichte der sozialistischen Entwicklung nicht nur eine "Geschichte einer fortwährenden Bereicherung des sozialistischen Humanismus ..., in der sich Kollektivität, Solidarität und Toleranz als Kennzeichen einer neuen Lebensweise entfalten"/17/ war. Es ist zwar richtig, daß Einstellungen, Denk- und Verhaltensweisen, die über Jahrhunderte reproduziert und tradiert wurden, sich kaum schlagartig beseitigen lassen, sozusagen als "Muttermale" und "ideologisches Erbe vorsozialistischer Gesellschaftsordnungen" die ohnehin spät aufgenommene öffentliche Auseinandersetzung mit der Homosexualität belasten, dennoch muß wohl zur Kenntnis genommen werden, daß die Geschichte der Homosexuellendiskriminierung, die Verfolgung einschloß, auch ein Aspekt der Geschichte des Sozialismus ist. Damit hat der Sozialismus seinerseits Fakten geschaffen, die das Leben von Homosexuellen schwer und nicht selten unerträglich machten.

Ausgehend von Marxens (freilich für die höhere Phase des Kommunismus geltendem) Diktum, daß die "freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist"/18/, muß festgehalten werden, daß Widerstände gegen diese freie Entwicklung und die jahrtausendealte Diskriminierung der Homosexuellen auch unter sozialistischen Verhältnissen auf fruchtbaren Boden fallen konnten. Dennoch erscheint es wenig sinnvoll, an der Behandlung der Schwulen und Lesben die Systemfrage festzumachen. Verfolgung und Unterdrückung in den Staaten des realen Sozialismus waren gesellschaftliche Fehlentwicklungen, sie widersprechen jeder sozialistischen Theorie. Unbestreitbar ist demgemäß, daß "der Sozialismus keine zwangsläufige Position zur Schwulenfrage (hat). Aber dafür eine zur Menschlichkeit. Und zur Menschlichkeit gehört die freie Entfaltung der Persönlichkeit für alle Menschen, auch für Homosexuelle. Zur Menschlichkeit gehört Freiheit von Diskriminierung und Benachteiligung."/19/

Lesbisch/schwulsein und KommunistIn sein

Gewiß trug der gezeigte Widerspruch zwischen den Humanitätspostulaten der sozialistischen TheoretikerInnen und der realen Unterdrückung in den sozialistischen Ländern viel dazu bei, daß das soziale Problem Homosexualität in kommunistischen Zusammenhängen der westlichen Länder tabuisiert wurde. Die Forderungen, für die fortschrittliche Schwule und Lesben, und mit ihnen u.a. auch KommunistInnen, streiten, waren im Sozialismus weit von ihrer Einlösung entfernt. Der Sozialismus hat eine Niederlage erlitten. Verloren ist damit auch jene Entwicklungsperspektive, deren Gestaltungsmöglichkeiten homosexuelle Frauen und Männer – trotz aller Widersprüche – optimistisch stimmten. Doch wenn Homosexuelle KommunistInnen sind, dann lernen sie aus den realen Widersprüchen im Sozialismus, dann nennen sie diese beim Namen, anstatt sie zu verdrängen, dann behalten sie im Bewußtsein, daß echte Emanzipation der Homosexuellen weiter nur möglich ist bei der Emanzipation aller von den patriarchalisch geprägten Werten, Normen und Strukturen in den Geschlechterbeziehungen insgesamt, wobei nur der Sozialismus die Potenzen der prinzipiellen Lösung dieser Probleme hat.

Ein weiteres Problem besteht darin, daß auch heute unter KommunistInnen eher die Tabuisierung des Themas Homosexualität die Regel, Stellungnahmen hingegen die Ausnahme sind. Andererseits ergibt sich für Homosexuelle, die nicht nur die Notwendigkeit des Kampfes für ihre persönliche Emanzipation erkennen, sondern darüber hinaus noch für den Sozialismus Partei ergreifen, eine weitere, nicht minder schwierige Aufgabe: die Bekämpfung antihomosexueller Vorurteile in der ArbeiterInnenbewegung. Sicherlich gilt zunächst, daß auch fortschrittliche Menschen nicht frei sind von bürgerlichen Vorurteilen, auch sie sind in ihren irrationalen Ängsten von der Gesellschaft geprägt, die uns ihren Stempel aufdrückt. Insofern ist die richtige Politik oft nur das eine, das richtige Bewußtsein aber das andere. Demgegenüber ist zu fordern, daß mehr Homosexuelle als bisher auf die politischen Aspekte der Homosexuellenunterdrückung hinweisen, in ihren politischen Organisation eine angstfreie Atmosphäre einfordern und darauf aufmerksam machen, daß Homosexuellendiskriminierung als ein antidemokratisches Element in unserer Gesellschaft bekämpft werden muß. Indem der Kampf gegen die Diskriminierung von Homosexuellen zugleich immer auch ein Kampf um mehr demokratische Rechte ist, sollte er auch seinen fixen Platz im Kampf kommunistisch Denkender und Handelnder haben.

Manfred Mugrauer (KSV Wien) studiert Politikwissenschaft an der Universität Wien. Beitrag zuerst gekürzt erschienen in UNITAT (rote StudentInnenzeitung des KSV), Nr. 2/2000

Anmerkungen
1/ Die wissenschaftliche Einordnung der KPÖ in dieses Thema steht freilich noch aus.
2/ Engels, Friedrich: Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staats; in: Marx Engels Werke (MEW), Bd. 21. Berlin: Dietz 1962, S. 67
3/ Engels konnte mit einem Buch von Karl Heinrich Ulrichs, dem ersten Theoretiker der Homosexuellen-Emanzipation, nichts anfangen.
4/ In diesem Zusammenhang ist u.a. der 1902 vom Vorwärts ins Rollen gebrachte Krupp-Skandal zu nennen, weiters die Kampagne der sozialdemokratischen Münchner Post gegen den Stabschef der SA Ernst Röhm 1931/32, sowie die Theorie einer homosexuellen Verbindung zwischen van der Lubbe und Röhm im Zuge des Reichstagsbrands 1933; besonders in den letzten Jahren der Weimarer Republik wurde der Kampf gegen die Nazis wesentlich mit Verweisen auf homosexuelles "Lotterleben" der SA-Führung bestritten; vgl. Zinn, Alexander: "Die Bewegung der Homosexuellen". Die soziale Konstruktion des homosexuellen Nationalsozialisten im antifaschistischen Exil"; in: Grumbach, Detlef (Hg.): Die Linke und das Laster. Schwule Emanzipation und linke Vorurteile. Hamburg: MännerschwarmSkript 1995
5/ In der UdSSR und Rumänien herrschte ein Totalverbot homosexueller Handlungen unter Männern (wobei hier v.a. der Zusammenhang mit der griechisch-orthodoxen Tradition zu beachten ist), für homosexuelle Beziehungen von Frauen existierten keinerlei Bestimmungen. In Albanien, Polen und später der DDR war Homosexualität nicht strafbar; in Ungarn, der CSSR und Bulgarien galt selbes für homosexuelle Handlungen unter Erwachsenen; vgl. Krickler, Kurt: Strafrechtsvergleich zur Homosexualität in Europa; in: Lambda Nachrichten, Nr. 3/86; ferner auch HOSI Wien/Auslandsgruppe: Rosa Liebe unterm roten Stern. Kiel: Frühlings Erwachen 19862
6/ Amendt, Günter (Hg.): Natürlich anders. Zur Homosexualitätsdiskussion in der DDR. Köln: Pahl Rugenstein 1989, S. 14
7/ vgl. Hohmann, Joachim S. (Hg.): Sexualforschung und –politik in der Sowjetunion seit 1917. Frankfurt/M. u.a.: Lang 1990
8/ Wörtlich heißt es dort: "Ich weise jedoch darauf hin, daß in dem Lande, wo das Proletariat tapfer und erfolgreich wirtschaftet, die die Jugend verderbende Homosexualität als sozial verbrecherisch und strafbar angesehen wird, während sie im ´Kultur´land der großen Philosophen, Gelehrten und Komponisten frei und ungestraft wirksam ist. Es ist schon die sarkastische Redensart aufgekommen: Rottet die Homosexuellen aus – und der Faschismus wird verschwinden." ("Proletarischen Humanismus", Pravda und Izvestija vom 23.05.1934), auch in: Rundschau über Politik, Wirtschaft und Arbeiterbewegung 3 (1934), Nr. 34, S. 1297-1299; zit. nach: Tornow, Siegfried: Männliche Homosexualität und Politik in Sowjet-Rußland; in: Schwulenreferat ASta der FU Berlin (Hg.): Homosexualität und Wissenschaft II. Berlin: rosa Winkel 1992, S. 2. 281
9/ Moskau, Bd. 12, S. 35, russ.; zit. nach Brockmann, Jürgen: Antihomosexualität in Osteuropa; in: Lautmann, Rüdiger: Seminar: Gesellschaft und Homosexualität. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1977, S. 451
10/ Moskau, Bd. 7, S. 56, russ.; zit. nach ebd.
11/ Kon, Igor: Einführung in die Sexuologie. Berlin: VEB Deutscher Verlag der Wissenschaften 1985
12/ vgl. dazu auch Thinius, Bert: Aufbruch aus dem grauen Versteck. Ankunft im bunten Ghetto? Randglossen zu Erfahrungen schwuler Männer in der DDR und in Deutschland Ost (BVH-Materialien Nr. 4). Berlin 1994
13/ Grau, Günter: Sozialistische Moral und Homosexualität. Die Politik der SED und das Homosexuellenstrafrecht 1945 bis 1989 – ein Rückblick; in: Grumbach, Detlef (Hg.): a.a.O., S. 139
14/ Psychosoziale Aspekte der Homosexualität. Jena: Veröffentlichungen der Friedrich-Schiller-Universität [Manuskriptdruck] 1986 und 1989; das Protokoll des III. Workshops vom Februar 1990 erschien erst 1991
15/ Werner, Reiner: Homosexualität. Herausforderung an Wissen und Toleranz. Berlin: VEB Verlag Volk und Gesundheit 1987; zur Auseinandersetzung damit vgl. u.a. Amendt, Günter: Sexuelle Artung auf kulturellem Niveau; in: Konkret 09/87, S. 60
16/ Steigerwald, Robert: Protestbewegung. Streitfragen und Gemeinsamkeiten. Frankfurt/M.: Verlag Marxistische Blätter 1982, S. 87
17/ Hahn, Erich: Sozialistischer Humanismus und Frieden; in: VI. Philosophiekongreß der DDR. Berlin: Dietz 1985, S. 26
18/ Marx/Engels: Manifest der Kommunistischen Partei; in: MEW, Bd. 4. Berlin: Dietz, S. 482
19/ Bieck, Trutz/Schwamborn, Winfried: Kopf oder Bauch. Die demokratische Bewegung und die Schwulen; in: Schwamborn (Hg.): Schwulenbuch. Lieben, kämpfen, leben. Köln: Pahl Rugenstein 1983, S. 182